‚Klein Uderwangen‘ und der ‚Kreuzburger Grund‘

Die Wohnplätze ‚Klein Uderwangen‚ und ‚Kreuzburger Grund‚ im Kreis Preußisch Eylau liegen ein wenig außerhalb der zugehörigen Gemeinden. Diese Abgelegenheit ist unbedingt erforderlich, um die Dorfbewohner vor Geruchsbelästigung und Seuchengefahr zu schützen, denn in sowohl in Klein Uderwangen als auch im Kreuzburger Grund befinden sich Abdeckereien.

Tagtäglich werden hier tote Tiere angeliefert, denn die Abdecker – auch Halbmeister oder Schinder genannt – sind zuständig für die Entsorgung sämtlicher Tierkadaver – auch für die Entfernung herumliegender Katzen- und Hundekadaver. Die Kadaver werden von ihnen zerlegt und die nicht zu verwertenden Reste werden vergraben oder verbrannt. Man ahnt den Geruch!

Sowohl der Beruf des Abdeckers als der des Scharfrichters gehören über Jahrhunderte zu den unehrenhaften Berufen. Man meidet die Gesellschaft von Personen, die diesen Beruf ausüben. In den Kirchen haben Abdecker und Scharfrichter oft eigene Bänke – sie können weder Bürger einer Stadt werden noch werden sie vor Gericht als Zeugen angehört.

‚Am untersten Rande der unehrlichen Leute stand der Abdecker, … der zwar einer für die Gesellschaft unverzichtbaren Tätigkeit nachging, die ihm auch ein gutes Einkommen brachte, aber ganz und gar in Verruf stand. Er war dafür zuständig, totes Vieh zu beseitigen und ihm die Haut abzuziehen, nicht selten musste er die Hingerichteten und Selbstmörder verscharren. Hinzu kamen oft noch andere gemeindliche, aber nicht minder anrüchige Tätigkeiten wie etwa die Abortreinigung. Seinem Ruf entsprechend wohnte .. der Abdecker abseits der Ansiedlungen, gemeinsames Feiern mit ihm war selbstverständlich ausgeschlossen, eine Patenschaft für ein Abdeckerkind zu übernehmen anrüchig und an seiner Beerdigung teilzunehmen verboten. Der Abdecker war im vollsten Sinne infam ... wie redlich er im modernen moralischen Sinne auch sein mochte‘. (Quelle: Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit; Dorf und Stadt; C.H.Beck, 1999 – Kapitel: Stand und Ehre)

Abdecker-Familien bleiben fast immer unter sich – ihre Söhne und Töchter heiraten fast durchweg in andere Abdecker-Familien ein. Ein Umdenken setzt erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein.

‚Das Abdeckerwesen krepierter Thiere galt seit uralter Zeit im deutschen Volke für eine verächtliche und ehrlos machende Arbeit … Der Fortschritt der Aufklärung hat jenes Vorurtheil überwältigt. Die Bearbeitung toter Thiere macht nicht mehr ehrlos, sie wird als eine nützliche Arbeit gewürdigt. … Seit dem Jahr 1832 machten die Stände des Landkreises Königsberg die Abdeckerverhältnisse oft zum Gegenstand ihrer Verhandlungen auf den Kreistagen‘. (Quelle: Justizrat Dr. Tortilowicz von Batocki in Preußische Provincial-Blätter; Königsberg 1846)

‚1785 befanden sich im „Königlichen Amt Uderwangen mit Dorf und Kirche, Wasser- und Windmühle“ 58 Feuerstellen mit 536 Einwohnern. Dazu wird ‚KleinUderwangen, Haidmeisterwohnung‚ mit 1 Feuerstelle aufgeführt. – 1820 waren im kgl. Dorf mit Kirche 66 Feuerstellen mit 586 Bewohnern. Dazu kam eine „Halbmeisterei Klein Uderwangen“ mit 1 Feuerstelle, 4 Einwohnern und das das Kgl. Vorwerk (1 Feuerstelle, 20 Personen‘). Quelle: Horst Schulz, Die Städte und Gemeinden des Kreises Pr. Eylau

Einer der Abdecker in ‚Klein Uderwangen‘ ist Simon Meyer. Bevor er sich hier als Pächter der Abdeckerei niederlässt, hat er bereits einen weiten Weg hinter sich … Einträge in verschiedenen Kirchenbüchern verraten seine Herkunft und einiges über seinen bisherigen Lebensweg. Simon stammt aus ‚Louisville‚ in der Nähe von Metz in Lothringen, wo er als ältester Sohn des Fleischermeisters Leopold Meyer um 1792 geboren wird und aufwächst. (Anmerkung: Der Pastor notierte den Herkuntsort sehr deutlich als ‚Louisville‘ – ich konnte den Ort jedoch in alten Karten nicht finden).

Simon Meyer hält sich ab ca. 1813 in Ostpreußen auf – möglichweise kam er als Soldat im Zuge der Napoleonischen Kriege in diese Gegend. Als er 1815 in der Sackheimer Kirche von Königsberg seine 1. Ehe mit Anna Barbara Spey aus Kirschnabeck bei Laukischken schließt, ist Simon Scharfrichterknecht. Auch 1817 – zum Zeitpunkt der Geburt des ältesten Sohnes Gottfried in der Stadt Kreuzburg im Kreis Preußisch Eylau – übt er diesen Beruf noch aus.

Von Kreuzburg aus zieht die kleine Familie zunächst nach Capustigall.

Das Gut Capustigall war im 16. Jahrhundert zunächst ein Gutshof der Herren von Lehndorff, dann von 1637 bis 1700 der Herrn von Mühlheim, danach der Familie von Kreytzen, ab 1711 der Familie von Chièze. Durch Erbe und Heirat gelangte es an die preußische evangelische Nebenlinie des oberschwäbischen Hauses Waldburg, die sich nach dem Ort Waldburg-Capustigall nannte. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die jungen Grafen von Waldburg-Capustigall von Immanuel Kant als Hauslehrer unterrichtet. Kant lebte aber nie im Ort, sondern kam zu Tagesaufenthalten aus dem nahen Königsberg nach Capustigall. 1835 kam das Gut durch Erbschaft an die Grafen von Dohna-Schlobitten. Ab 1850 wurde der Ort in Erinnerung an die früheren Besitzer meist Waldburg genannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gut mit dem barocken Gutshof völlig zerstört. (Wikipedia)

Schon in Capustigall ist Simon Meyer für die Abdeckerei verantwortlich. Hier werden weitere 3 Kinder geboren, die in der Kirche von Haffstrom getauft werden: 1818 Carl Leopold – 1820 Carl Ferdinand und 1822 Tochter Christine Wilhelmine.

In dieser Karte aus dem Jahr 1912 ist der Wohnplatz ‚Klein Uderwangen‘ gar nicht verzeichnet.

Mit nunmehr 4 Kindern lässt sich Familie Meyer um 1823 in der Abdeckerei ‚Klein Uderwangen‘ im Kreis Preußisch Eylau nieder, wo Simons Ehefrau Anna Barbara von 1824 bis 1835 noch 8 weitere Kinder zur Welt bringt: 1824 Johann August – Caroline Augustine Amalie – 1825 Justine – 1827 Johann Hermann – 1829 Caroline Elisabeth – 1831 Julius Leopold – 1833 Louise Rosette und 1835 Friedrich Wilhem Meyer. Im Mai des Jahres 1841 verstirbt die Mutter.

Die vielen Kinder müssen versorgt werden …. Bereits am 25. Juni 1841 heiratet Simon in der Kirche von Uderwangen erneut. Seine 2. Ehefrau wird Christine Radowski, geb. Spey, eine Schwester der verstorbenen 1. Ehefrau und Witwe des Faktors Daniel Radowski aus Königsberg. Im Kirchenbuch ist zu lesen:

‚den 25. Juni ist der Abdecker und Wittwer Simon Meyer zu Kl. Uderwangen, gebürtig aus Lousiville, ohnweit Metz in Lothringen, in Frankreich, des dortigen verstorbenen Fleischermeisters Leopold Meyer ältester Sohn, mit seiner Braut, der Factor-Wittwe Christine Radowski geb, Spey zu Königsberg, und aus Kirschnabeck, Laukischker G(emeinde). gebürtig, hinterl(assene) Wittwe des verstorbenen Factors Daniel Radowski zu Königsberg, ehelich verbunden worden.

Simon Meyer hat großes Pech mit einigen seiner Ehefrauen … Als die 1842 geborene Tochter Bertha Louise Meyer 1844 verstirbt, lebt auch Mutter Christine schon nicht mehr. Simons 2. Ehe dauert nur 2 Jahre.

Am 16. Februar 1844 wird in der Kreuzburger Kirche Simons 3. Ehe mit Anna Elisabeth Kraft geschlossen – einer Tochter des Abdeckerpächters Johann Ferdinand Kraft aus dem ‚Kreuzburger Grund‚ und dessen Ehefrau Anna Louisa Ortmann. Anna Elisabeth wurde dort am5, April 1824 geboren.

Diese 3. Ehe endet nach nur wenigen Monaten – schon im Dezember 1844 wird in Uderwangen Simons 4. Heirat gefeiert – vermutlich mit denselben Verwandten wie zu Beginn des Jahren, denn Simons neue Ehefrau Christina Wilhelmina Kraft ist die jüngste Schwester des Kreuzburger Abdeckers Johann Ferdinand Kraft und damit die Tante seiner vorherigen Ehefrau.

Der Pastor von Uderwanger notiert im Kirchenbuch:

Simon Meyer, 51, Witwer u. Pächter der Abdeckerei zu Uderwangen, geboren in Lothringen, in der Gegend von Metz, seit 1813 hier u. Wilhelmine geb. Kraft, 42, verehelicht gewesene Holz abgeschiedene Laerm, des zu Postell verstorbenen Abdecker Pächters Gottfried Kraft vierten Tochter, zuletzt zu Schoenwalde

1846 kommt in der Abdeckerei Tochter Henriette Bertha Meyer zur Welt.

Den Namen ‚Kraf(f)t und Ort(h)mann begegnet man in der Region um Königsberg immer wieder, wenn man sich mit den Familien der Abdecker beschäftigt. Johann Ferdinand Kraft stammt aus Postel (bzw. ‚der Postelle‘) im Kirchspiel Postnicken im Samland, wo seine Familie schon seit mehreren Generationen die Abdecker stellt – Anna Louise Ortmanns Vater betreibt die Abdeckerei in Bieberswalde bei Wehlau

Der Abdecker Simon Meyer wird 65 Jahre alt – er verstirbt am 15. April 1855 an der Epilepsie. Dies ist sein Sterbeeintrag im Kirchenbuch von Uderwangen:

Simons Sohn Johann Hermann Meyer wird zunächst Riemermeister, übernimmt jedoch irgendwann auch die Abdeckerei.

Die 1822 in Capustigall geborene Christine Wilhelmine Meyer heiratet 1840 Christian Albrecht, einen Schmiedegsell als Althof im Kirchspiel Schmoditten –Augustine Amalie und Caroline Elisabeth Meyer heiraten 1844 bzw. 1847 in andere Abdecker-Familien ein:

Die Einträge im Kirchenbuch lautebn: 1844 – ‚Carl Gottfried Ortmann, 24, Abdecker Pächter in Heilsberg, vordem in Postnicken mit Augustine Amalie, 19, zweite Tochter des Abdecker Pächters Simon Meyer in Kl. Uderwangen und 1847 – ‚August Worg, Scharfrichterghilfe in Kl. Uderwangen, künftig in Heiligenbeil, Sohn des Abdeckerpächters Wilhelm Worg oo Caroline Elisabeth Meyer‘ (*1829)). Beide Eheschließungen werden in Uderwangen vollzogen.

Der in Kreuzburg geborene älteste Sohn Gottfried Simon Meyer holt sich seine Braut 1839 aus der Windmühle von Gr0ß Ottenhagen – er ehelicht die 17jährige Müllerstochter Louisa Amalia Augustine Supplit.

Louisa Amalia Augustine Supplit bzw. Supplieth ist die Tochter des Müllergesellen Gottlieb Leberecht Supplieth, der im Alter von 20 Jahren in Groß Dirschkeim im Samland einen unehelichen Sohn zeugt und danach verschwindet. Etwa 1 Jahr später heiratet er die Tochter eines Kunstgärtners, mit der er einige Kinder bekommt. Die Ehe wird 1826 geschieden. Danach verliert sich seine Spur …

Auch Gottfried Simon Meyer wird Abdecker. 1847 wird er – der sich zeitweise auch in der Abdeckerei des Schlosses Gerdauen aufhält – durch einen Steckbrief im Königsberger ‚Öffentlichen Anzeiger‚ gesucht. Gemeinsam mit 2 anderen „berüchtigten Verbrechern“ war er aus dem Wehlauer Gefängnis entwichen, in dem er aufgrund verschiedener Diebstähle gelandet war.

Weitere Abdecker in ‚Klein Uderwangen‘

  • 1755 wird Martin Krafft genannt. Seine Ehefrau heißt Anna Christina Porsch.
  • 1775 heißt der Abdecker Jacob Kraft – seine Ehefrau Anna Dorothea Reh
  • Der Halbmeister Ludwig Boeck verstirbt am 19.3.1805 im Alter von ‚etwa 45 Jahren‚ in Klein Uderwangen an der Lungensucht. Seine Ehefrau Anna Louisa, geb. Buchhorn, bringt in Klein Uderwangen 4 Kinder zur Welt: 13.9.1788 – *Maria Elisabeth Boeck – 1.2.1790 *Johann Ephraim Boeck – 4.11.1792 Christina Elisabeth Boeck – 7.2.1799 *Anna Catharina Boeck. Die verwitwete Halbmeisterfrau Anna Louisa Boeck, geb. Buchhorn wohnt noch 1813 in Klein Uderangen. Vermutlich hat sie nach dem Tod ihres Ehemanns den jungen Abdecker Johann Friedrich Klein zu Hilfe geholt, der jedoch nur 26 Jahre alt wird und am 3.3.1811 in Klein Uderwangen verstirbt.

Die älteste Boeck-Tochter Maria Elisabeth (*1788) heiratet 1811 in Uderwangen den Knecht Christian Lentz, einen Sohn des in Weißstein verstorbenen Instmanns Johann Lentz – die jüngste Tochter Anna Lovisa (*um 1801) wird 1820 in Uderwangen die Ehefrau des Landwehrmanns Gottlieb Krause, des jüngsten Sohns des in Lewitten verstorbenen Einwohners Christoph Krause.

  • 1817 betreibt der Abdecker Johann Kurowski mit seiner Ehefrau Karolina Kraft die Abdeckerei in Klein Uderwangen. Im November wird ihre Tochter Heinriette Friderica Amalia Kurowski geboren. Als Witwer heiratet Johann Kurowski 1841 in Kreuzburg wiederum eine Tochter aus der Abdecker-Familie Kraft. Seine 2. Ehefrau ist eine Tochter des Kreuzburger Abdeckerpächters Johann Ferdinand Kraft und seiner Ehefrau Anna Louisa Ortmann. Mittlerweile ist Johann Kurowski Abdecker in Alleinen im Samland – im Kirchspiel Pobethen.
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2 Antworten zu ‚Klein Uderwangen‘ und der ‚Kreuzburger Grund‘

  1. Hans sagt:

    Ich habe hier eine spannende Familiengeschichte gelesen. Gern würde ich mehr über das Leben der Abdecker lesen. Die geschilderten Umstände um deren Berufszweig erinnert mich an die „Unberührbaren“ in Indien.
    Vielleicht möchten Sie die Vier „Erzählchens“ über den Posthalter Petrat von Johannes Bobrowski lesen. Amüsant und nicht so „anrüchig“. Finden Sie hier:
    https://tinyurl.com/288zh6h3

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